In seinem 2007 veröffentlichten Werk Group Genius: The Creative Power of Collaboration beschäftigte sich Dr. R. Keith Sawyer mit der Idee, dass Zusammenarbeit Innovationen fördert. Zu dem Zeitpunkt war das eine radikale These, eine, die in einem deutlichen Widerspruch zu der immer noch weit verbreiteten individualistischen Sichtweise stand, dass Innovationen in erster Linie von einem ausgesprochen seltenen mythischen Lebewesen stammen: dem einsamen Genie. Mit der Veröffentlichung seines neuen Buches The Creative Classroom: Innovative Teaching for 21st Century Leaders setzt Dr. Sawyer seine jahrzehntelangen Bemühungen fort, die zahlreichen Verbindungen zwischen Kreativität, Zusammenarbeit und Lernen nachzuvollziehen. Dr. Sawyer hat sich trotz seines engen Terminplans an der School of Education der University of North Carolina, an der er als Morgan Distinguished Professor of Educational Innovations beschäftigt ist, Zeit genommen, uns das Thema Kreativität und Zusammenarbeit näherzubringen. Kommen wir direkt zum Punkt. Amanda Holst: Können Sie mir etwas über die Ursprünge Ihrer Forschungsarbeit zur Kreativität von Gruppen erzählen? Keith Sawyer: Ich tue nichts lieber, als über meine Forschung zu sprechen! Ich würde sagen, sie geht auf mein Interesse an improvisierter Musik zurück. Ich bin Jazzpianist und spiele seit der Mittelstufe Klavier. Ich hatte sogar ein paar Auftritte am letzten Wochenende. Ich fand es immer schon faszinierend, gemeinsam mit anderen Musik zu machen. Vielleicht analysiere ich zu viel, aber ich frage mich oft, was wohl passiert, während ich spiele. Wie sehen die Interaktionen zwischen mir und den anderen Musikern aus? Alle improvisieren, und niemand weiß, was er als Nächstes tun wird. Und man weiß erst recht nicht, was die anderen als Nächstes tun werden. Es ist sehr flexibel und unvorhersehbar. Selbst wenn man sich vorgenommen hat, etwas Bestimmtes zu tun, muss man seine Pläne möglicherweise wieder ändern, wenn jemand anderes etwas getan hat. Planung ist in diesem Sinne also nicht so günstig, denn wer plant, hört nicht richtig zu. Man konzentriert sich zu sehr darauf, was man tun möchte. Ich habe mich auch viele Jahre lang mit Chicagoer Improvisationstheater beschäftigt. Ich war Pianist in einigen Improvisationsgruppen dort, und diese persönlichen Erfahrungen haben mein Interesse an Kreativität und Zusammenarbeit in Gruppen geweckt.
AH: Welche wichtigen Erkenntnisse haben Sie durch Ihre Forschung zur kreativen Kraft der Zusammenarbeit gewonnen?
KS: In den 90er Jahren habe ich festgestellt, dass diese Art der Improvisation sich gut auf den Alltag übertragen lässt. Ich habe Anfang der 2000er Jahre begonnen, Artikel in Zeitschriften und einige wissenschaftliche Publikationen zu veröffentlichen. Etwa 2005–2006 erkannten die ersten Unternehmen, dass Innovation oft von Zusammenarbeit unterstützt wird. Davor dachten sie, sie würden innovativer sein, wenn sie mehr kreative Mitarbeiter einstellen. Diese Menschen hätten dann bessere Ideen und das Unternehmen könnte mehr Patente anmelden oder so etwas. Der Schwerpunkt lag jedoch auf Talent und darauf, wirklich kreative Mitarbeiter einzustellen. Etwa zu dieser Zeit verbreitete sich allerdings die Erkenntnis, dass es in Wirklichkeit Teams sind, die zusammenarbeiten und so Kreativität und Innovation hervorbringen. Meine Forschung passte perfekt dazu.„Selbst bei den legendären Momenten, in denen jemand ein Aha-Erlebnis hatte, erkennt man, wenn man ein wenig unter die Oberfläche blickt, immer, dass dem Moment eine Zusammenarbeit vorausgegangen ist.“Meine Botschaft war insofern einzigartig, als dass sie gezeigt hat, dass die kreativsten, kooperativsten Teams die sind, die am ehesten wie ein Improvisationsensemble funktionieren. Dort wird das eigene Handeln viel mehr vom Zuhören und Reagieren bestimmt als von unabhängig geplanten Reaktionen. Wenn man sich im Kopf ein Skript zurechtlegt, plant man mehrere Dialogzeilen weit voraus. Dabei stellt man sich in der Regel auch vor, was die anderen Mitglieder der Gruppe als Nächstes tun werden … und genau das tun sie natürlich nie. Dasselbe beobachte ich bei organisatorischen Teams. Wenn diese Improvisationsmerkmale aufweisen, sind sie oft innovativer.
AH: Sind Ihnen noch weitere Lücken bei der Erforschung kreativer Gruppenzusammenarbeit in Teams und Organisationen aufgefallen?
KS: Eine meiner Schlüsselfragen lautete: Was macht eine Gruppe innovativ oder kreativ? Gruppenkreativität ist eine Art der Gruppeninteraktion, bei der niemand aus der Gruppe weiß, was geschehen wird. Niemand kann etwas vorhersagen. In diesem Fall kann nichts, was auf der Gruppenebene geschieht, einer einzelnen Person zugeschrieben werden. Auf diese Weise hat die Gruppe beispielsweise nach einem einstündigen Meeting eine Idee gehabt. Die Perspektive verändert sich. Es ist nicht mehr eine einzelne Person, der die Leistung der ganzen Gruppe zugeschrieben wird, sondern es heißt: „Hey, wir haben diese tolle Idee gehabt!“ Meiner Meinung nach kommen die besten Kreationen von Gruppen. Diese Vorstellung von der kollaborativen Emergenz ist in meinen Arbeiten sehr wichtig. Dahinter steht die Idee, dass das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile. Wenn in einem Team beispielsweise fünf Personen miteinander interagieren, dann ist das Team größer als nur die fünf Personen im Raum. Es hat eine kollektive Eigenschaft, und das, was erarbeitet wird, sollte dementsprechend dem Kollektiv zugeordnet werden. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Kollektiv erweist sich als ziemlich kompliziert, weil es letztendlich nur fünf Personen sind. Wie kommt es also, dass man analytisch über die Beziehung dieser fünf Personen untereinander nachdenkt, aber auch über dieses kollektive Phänomen, das irgendwie größer und besser ist als diese fünf Personen? Damit habe ich mich eine ganze Weile beschäftigt. Schließlich habe ich einen theoretischen Rahmen entwickelt, der sich meiner Ansicht nach auf jede beliebige Zusammenarbeit von Personen anwenden lässt. Dann habe ich begonnen, ihn auf die organisatorische Ebene zu übertragen. Bei meiner Forschung zu Theater- und Jazzensembles beschäftige ich mich normalerweise mit Gruppen von weniger als fünf oder zehn Personen, aber viele Organisationen bestehen aus Tausenden von Menschen. Ich denke allerdings, dass man diesen theoretischen Rahmen auf diese großen dezentralen Netzwerke der Zusammenarbeit übertragen kann.AH: Können Sie mir etwas über die Idee erzählen, Kreativität sei immer kollaborativ, wenn man allein arbeitet? Was haben Sie damit gemeint? Wie ist das möglich?
KS: Ich denke, es ist ein Paradoxon, aber ich wollte mich wegen meiner psychologischen Ausbildung mit diesem Paradoxon beschäftigen. Ich interessiere mich für Gruppen, aber ich interessiere mich auch für individuelle Kreativität. Wenn man Beispiele aus dem wahren Leben betrachtet, wird man feststellen, dass selbst dann, wenn jemand eine Idee hat und gerade allein ist, man sie immer auf Interaktionen zurückführen kann, die vor diesem Moment stattgefunden haben. Menschen leben ihr Leben und sitzen dabei nie die ganze Zeit über isoliert in einer Höhle. Sie interagieren immer mit anderen Menschen oder beschäftigen sich mit deren Ideen. Ideen, die man hat, wenn man allein ist, sind eng mit dem Kollektiv – sozialen Begegnungen auf einer höheren Ebene – verbunden. Selbst bei den legendären Momenten, in denen jemand ein Aha-Erlebnis hatte, erkennt man, wenn man ein wenig unter die Oberfläche blickt, immer, dass dem Moment eine Zusammenarbeit vorausgegangen ist. Wir denken oft, Kreativität findet statt, wenn eine brillante Person ein Aha-Erlebnis hat, aber in Wirklichkeit steckt immer eine komplizierte Kette improvisatorischer Interaktionen dahinter. In diesem Sinne ist der Moment der Idee nur ein Moment in einem langen, komplizierten sozialen Prozess.AH: Welche Mythen gibt es denn nun über Kreativität am Arbeitsplatz?
KS: Ein Mythos über Kreativität am Arbeitsplatz besagt, man müsse nur sehr intelligente, talentierte Leute einstellen und ihnen dann freie Hand lassen, damit sie kreative Ideen haben. Natürlich sollte man intelligente, talentierte Leute einstellen und ihnen freie Hand lassen, aber das Problem besteht darin, dass man Kreativität mit Einzelpersonen, also den einzelnen Mitgliedern seiner Organisation, assoziiert. Damit meine ich jegliche Art von Organisationen, also Privatunternehmen, Non-Profit-Organisationen …„Wenn eine Umgebung für Kreativität und Zusammenarbeit in der Gruppe geschaffen werden soll, erscheint Improvisation wie das Gegenteil von Struktur, aber Struktur bildet das Fundament für Improvisation.“Ganz ehrlich: Alle organisierten Gruppen von Menschen, selbst dezentrale wie soziale Netzwerke, sind eine Art Organisation, die sich aus vielen Menschen zusammensetzt. In diesen Netzwerken interagieren die Menschen fortwährend miteinander. Ich analysiere Situationen, in denen Menschen flexibel und frei miteinander interagieren, sodass Unterhaltungen zustande kommen. Ich habe herausgefunden, dass Organisationen, die sich auf Einzelpersonen konzentrieren, oft weniger kreativ sind als solche, bei denen Zusammenarbeit groß geschrieben wird.
AH: Was betrachten Sie als die Verbindungen zwischen Kreativität und Ausbildung und zwischen Kreativität und der Organisation?
KS: Ich verwende einen theoretischen Rahmen, den ich soziale Emergenz nenne. Er beschreibt, was aus Interaktionen innerhalb von Gruppen von improvisatorischen und unstrukturierten Personen entsteht. Ich hoffe, soziale Emergenz wird bei vielen Führungspersonen in Organisationen erwünscht, weil sie Innovation und Problemlösung in Gruppen auf den Punkt bringt. Aber der von mir entwickelte Rahmen lässt sich auch auf Gruppen anwenden, die gemeinsam lernen. Das ist kollaboratives Lernen, egal, ob es sich um eine Gruppe von Schülern in einer Klasse, eine Lerngruppe am Wochenende oder ein Lernmanagementsystem handelt, das kollektive Interaktionen unter den Lernenden ermöglicht. Die Verbindung besteht darin, dass die effektivsten Gruppen soziale Emergenz ermöglichen, was wiederum ein Umfeld für diese Merkmale der Improvisation schafft.AH: Welche Rolle spielt Technologie dabei, wie Führungskräfte und Organisationen heute versuchen, Gruppenkreativität zu nutzen?
KS: Ich habe einen Abschluss in Informatik und acht Jahre lang in der Softwareentwicklung gearbeitet, bevor ich mich der Erforschung der Kreativität zugewandt habe. Deswegen halte ich die Augen immer für technologische Neuerungen offen. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die meisten neuen Technologien die Interaktionen der Menschen untereinander nicht fundamental verändern. In vielen Fällen könnte man das auch persönlich machen, vielleicht sogar erfolgreicher als beim sogenannten computergestützten kollaborativen Lernen. Aber einige Technologien können die Zusammenarbeit verbessern, und das ist ein Bereich, der zurzeit erforscht wird. Wenn man die wissenschaftlichen Aspekte menschlichen Lernens und der Interaktion und Zusammenarbeit versteht, kann man ein strukturiertes, gerüstartiges Interaktionssystem entwickeln, das eine stärker improvisierte Zusammenarbeit ermöglicht. Wenn eine Umgebung für Kreativität und Zusammenarbeit in der Gruppe geschaffen werden soll, erscheint Improvisation wie das Gegenteil von Struktur, aber Struktur bildet das Fundament für Improvisation. Es kann keine reine Improvisation ohne Struktur geben. Wenn ich mich mit dem Unterricht beschäftige, bezeichne ich die Balance zwischen Struktur und Improvisation als geführte Improvisation.AH: Wie würden Sie jemandem, der Ihre Forschungsarbeiten zur Funktionsweise von Kreativität nicht gelesen hat, Kreativität erklären?
KS: Das ist die große Frage! Ich würde sie eher so formulieren: „Wie sieht der kreative Prozess aus?“ Davon ausgehend würde ich dann festlegen, was er nicht ist: Er ist kein einzelner Moment, in dem jemand eine Idee hat. Ich würde erklären, wie Kreativität im Zuge eines Prozesses im Laufe der Zeit entsteht. All diese Dinge kann man in der Regel beobachten. Ich denke, wenn man sich über einen längeren Zeitraum hinweg mit diesem kreativen Prozess beschäftigt, kann man erkennen, wie Kreativität wirklich funktioniert. Man erkennt, dass es sich um einen umherschweifenden Improvisationsprozess handelt. Selbst wenn eine Person ihn allein durchläuft, ist er nicht linear. Der Prozess verläuft im Zickzack. Entsprechend hieß mein Buch aus dem Jahr 2013, in dem es um den kreativen Prozess im Laufe der Zeit ging, auch Zigzag . So funktioniert Kreativität. Ich glaube, es ist wichtig, sich auf den Prozess zu konzentrieren, und dieser Prozess besteht aus vielen kleinen Ideen, winzigen Funken. Keiner davon ist die Lösung für das Problem, aber jeder Funke trägt dazu bei, Ideen weiterzuentwickeln. Und dann geht es um die vielen Faktoren, die es uns als Einzelpersonen und Gruppen ermöglichen, diese kleinen Ideenfunken zu entwickeln.AH: Was übt Ihrer Meinung nach zurzeit den größten Einfluss auf Teams und ihre Fähigkeit zur kreativen Zusammenarbeit aus?
KS: Ich glaube nicht, dass sich die Zusammenarbeit in Unternehmen im Laufe der Jahrzehnte wirklich grundlegend verändert hat. Aber wenden wir uns einmal den letzten beiden Jahren zu, in denen die Menschen natürlich nicht mehr so viel persönlich zusammengearbeitet haben. Was Online-Teams angeht: Es gab schon in den 90er Jahren, sogar noch vor dem Internet, erste Forschungsarbeiten zu virtuellen Teams. In einigen Fällen hat die Forschung gezeigt, dass die Zusammenarbeit in einem virtuellen Team zu mehr Kreativität führen kann. Virtuelles Brainstorming kann aus den unterschiedlichsten Gründen viel effektiver sein als persönliches Brainstorming. Persönlich ist nicht immer besser.AH: Können Sie uns etwas über den Zustand des Flow erzählen und erklären, was er mit Kreativität und Zusammenarbeit in Gruppen zu tun hat?
KS: Der Begriff „Flow“ stammt von meinem Doktorvater Mihaly Csikszentmihalyi. Er hat das Wort 1990 mit der Veröffentlichung seines Buchklassikers Flow: Das Geheimnis des Glücks berühmt gemacht. Das Buch hat dazu beigetragen, diesen neuen Bereich positiver Psychologie – die Erforschung von Menschen auf dem Höhepunkt ihrer Leistung – zu verbreiten. Wenn man etwas tut, bei dem man eine intrinsische Motivation verspürt, kommt man in den Zustand des Flows. Wenn man etwas für eine externe Belohnung tut, kommt man selten in den Zustand des Flows. Die Flow-Forschung begann in den 80er und 90er Jahren und fing dann an, die Kreativitätsforschung zu beeinflussen, weil es eine wichtige Erkenntnis ist, dass man kreativer ist, wenn man eine intrinsische Motivation hat, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen. Ich hatte großes Glück, Csikszentmihalyi als Doktorvater zu haben.Als ich meine Studien von Improvisationsgruppen auf organisatorische Teams übertragen habe, ist mir aufgefallen, dass in effektiven Gruppen etwas auftritt, das ich Gruppen-Flow nenne. Dabei handelt es sich um einen kollektiven Flow, also einen Zustand, den die ganze Gruppe gemeinsam erreicht. Er ähnelt dem Flow-Zustand bei Individuen. Der Gruppen-Flow ist ein wichtiger Bestandteil von Gruppenkreativität und Zusammenarbeit.„Wenn die Führungsfunktion an sich kollaborativ wird, können großartige Dinge geschehen.“